Herr Zimmer, im Zentralvorstand der FMH sind Sie für Digitalisierung und E-Health zuständig. Wie digitalisiert – auf einer Skala von 1 bis 10 – arbeiten Sie selbst in Ihrer Praxis?
Je nach Fachgebiet und natürlich auch je nachdem, ob man stationär oder ambulant arbeitet, gibt es grosse Unterschiede, wie viel Digitalisierung sinnvoll eingesetzt werden kann. In meiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis orientiere ich mich bei den einzelnen Tools daran, ob sie mir und meinen Patienten Nutzen bringen. Ich führe meine Krankengeschichten elektronisch, mache meine Medikamentenbestellungen online, rechne elektronisch ab und biete Videokonsultationen und Mailkommunikation via HIN an. So würde ich mir einen Wert von 7,5 Punkten geben.Lassen Sie mich betonen: Mehr Digitalisierung ist nicht immer automatisch besser. Sie ist dann nutzenbringend, wenn sie hilft die Behandlungsqualität und -sicherheit zu verbessern. Wichtig ist zudem, dass sie Prozessabläufe verschlankt und unseren administrativen Aufwand reduziert. Digitalisierung soll mir helfen, mehr Zeit im direkten Kontakt mit meinen Patientinnen und Patienten verbringen zu können.Das Gesundheitswesen gilt als unterdurchschnittlich digitalisierte Branche. Spätestens seit der Covid-Pandemie sprechen viele Akteure davon, dass sich dies nun rasch ändern müsse. Wie nehmen Sie die aktuellen Bestrebungen wahr?
Die Pandemie hat uns Defizite in der Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens aufgezeigt: Die Meldungen an das BAG mussten anfangs per Fax, per Post oder unverschlüsselt per E-Mail versendet werden. Die Mitarbeitenden im BAG mussten die Daten dann manuell in das Meldesystem übertragen.Alexander Zimmer
Dr. med. Alexander Zimmer ist Mitglied des Zentralvorstands der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH und verantwortlich für das Departement Digitalisierung / eHealth. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und arbeitet in eigener Praxis in Solothurn.
Inzwischen ist das nationale Programm DigiSanté initiiert worden, um den Rückstand der Digitalisierung im Gesundheitswesen aufzuholen. Wir können gespannt sein, mit welcher Geschwindigkeit dieses Programm Fahrt aufnehmen wird. Ein Beispiel hierfür ist die Vereinfachung der Prozesse meldepflichtiger Erkrankungen mithilfe digitaler Technologien. Wichtig ist, dass solche Konzepte praxistauglich entwickelt werden, unter Einbezug aller Akteure, also insbesondere auch der Gesundheitsfachpersonen. Dies scheint nun der Fall zu sein und dies gibt uns Hoffnung, dass die Schweiz in den wesentlichen Punkten der Digitalisierung ihre Hausaufgaben erledigen kann.«Digitalisierung ist dann nutzenbringend, wenn sie hilft die Behandlungsqualität und -sicherheit zu verbessern und den administrativen Aufwand reduziert.»
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen soll auch die Patientinnen und Patienten und ihre Kompetenzen stärker ins Zentrum rücken, sei es als Nachfragende von telemedizinischen Dienstleistungen oder als Bewirtschaftende ihres (elektronischen) Gesundheitsdossiers. Wie verändert diese Entwicklung die Rolle der Ärzteschaft und die Arzt-Patienten-Beziehung?
Die Medizin hat in den letzten hundert Jahren mehrfach, bedingt durch den technologischen Fortschritt, einen deutlichen Wandel durchschritten. Hierbei stehen Aspekte wie der medizinische Nutzen, die rechtliche Zulässigkeit und insbesondere auch die ethische Vertretbarkeit im Vordergrund. Neu sind die Möglichkeiten, schneller und genauer zu diagnostizieren oder die Behandlungen effektiver und effizienter durchzuführen. Die Sorgfaltspflichten bezogen auf das ärztliche Handeln haben sich hingegen nicht geändert. Als Beispiel möchte ich die telemedizinischen Konsultationen erwähnen. Die FMH hat dieses Jahr ihre Standesordnung angepasst, und auf die Verantwortung einer telemedizinischen Behandlung hingewiesen. Jenseits der technologischen Machbarkeit entscheiden Ärztinnen und Ärzte selbst, in welchen Fällen eine Telekonsultation unter Wahrung der Sorgfaltspflichten angebracht erscheint.Beim Elektronischen Patientendossier (EPD) ist es in der Tat so, dass dieses die Patientinnen und Patienten stärker ins Zentrum rücken soll. Wir sehen dies mit gemischten Gefühlen. Einerseits berücksichtigen Ärztinnen und Ärzte per se bei einem Therapieentscheid die Präferenzen der Patientinnen und Patienten. Längst haben wir Abschied genommen von einem paternalistischen Weltbild, bei dem Patienten keine Möglichkeit der Mitsprache haben, wenn es um ihre eigene Gesundheit geht. Das EPD geht einen Schritt weiter und überträgt die gesamte Verantwortung der Informationssteuerung von Gesundheitsdaten an die Patientinnen und Patienten. Somit können diese Daten nur dann durch Ärztinnen und Ärzte genutzt werden, wenn diese vorgängig für den Datenzugriff berechtigt wurden. Lediglich im Notfall kann im EPD auf die Daten ohne vorgängige Berechtigung zugegriffen werden. Ob dies uns einen Nutzen für die Patientenbehandlung bringen wird, muss sich in der Praxis noch beweisen.«Ärztinnen und Ärzte entscheiden selbst, in welchen Fällen eine Telekonsultation angebracht erscheint.»
Das Schweizer Gesundheitswesen ist kantonal organisiert. Wissenschaft und Wirtschaft dagegen sind zunehmend internationalisiert. Wie geht die Ärzteschaft damit um, und wo steht die Schweiz bei Themen wie «E-Health» im Vergleich zum Ausland?
Der Föderalismus ist – zusammen mit der direkten Demokratie – eine der tragenden Säulen des schweizerischen Bundesstaates. Er dient dazu, den Wettbewerb zu fördern, die Vielfalt in der Einheit zu erhalten und den Staat dem Bürger anzunähern. Digitalisierung hingegen profitiert von der Etablierung von Standards, die auch über Grenzen hinweg eingehalten werden. So stehen Förderalismus und Digitalisierung manchmal im Konflikt miteinander. Anstatt den Förderalismus schlecht zu reden, sollte aus meiner Sicht der Fokus auf ein gutes Schnittstellenmanagement gerichtet werden. Wichtig ist, dass die Interoperabilität gewährleistet wird und Daten nur einmal eingegeben werden müssen.Die Einführung des elektronischen Patientendossiers schreitet übrigens selbst in einem Land mit ausgesprochen zentralistischen Strukturen wie Frankreich nur schleppend voran. Das Dossier Médical Partagé, das es in seiner jetzigen Form seit 2016 gibt, wird von den Leistungserbringern so gut wie nicht genutzt: Lediglich 160 000 Akten waren in den ersten eineinhalb Jahren erstellt worden – 90 000 davon blieben leer. Das zeigt uns, dass die Digitalisierung nicht zentral verordnet werden kann, in der Hoffnung, dass diese bei den Leistungserbringern ankommt. Digitale Strategien müssen von Grund auf zusammen mit den Leistungserbringern gut konzipiert sein. Primat sollte dabei die Strategie haben, den Behandlungsprozess bestmöglich durch digitale Hilfsmittel zu unterstützen.«Digitalisierung kann nicht zentral verordnet werden. Digitale Strategien müssen zusammen mit den Leistungserbringern konzipiert werden.»
Elektronische Assistenzsysteme, Operationsroboter und künstliche Intelligenz halten Einzug in der Medizin, durch Tools wie das Covid-Zertifikat oder das E-Rezept erleben wir auch als Bürgerinnen und Patienten die zunehmende Digitalisierung hautnah. Wie schaffen wir es, auch das Vertrauen jenes Teils der Bevölkerung zu gewinnen, der sich mit Gesundheits-Apps, Videosprechstunden oder elektronisch zugestellten Rechnungskopien schwertut?
KI in der Medizin
Künstliche Intelligenz (KI) dürfte den Menschen künftig von seiner Entstehung bis zum Tod in allen Belangen seiner Gesundheit begleiten. Dies wird einen tiefgreifenden Wandel in der Medizin und des ärztlichen Berufsbildes bewirken. Die FMH hat einen Überblick erstellt über die künstliche Intelligenz im ärztlichen Umfeld, insbesondere über Methoden, Nutzen, Anwendungsbeispiele und Herausforderungen. Künstliche Intelligenz in der Medizin (Website FMH)
Cyberangriffe auf Gesundheitseinrichtungen haben zugenommen. Beinahe wöchentlich sind Fälle von gehackten Schweizer Unternehmen in den Medien – leider sind oft auch Gesundheitseinrichtungen darunter. Wie können medizinische Fachpersonen sicherstellen, dass die eigene Praxis oder Institution und damit die Daten der Patientinnen ausreichend geschützt sind?
Weiterbildungen für mehr Datensicherheit
HIN sensibilisiert Gesundheitsfachpersonen für die Herausforderungen des Datenschutzes im Arbeitsalltag und für die Gefahren durch Cyberkriminalität. Der Fokus einer Awareness Schulung liegt wahlweise auf dem Thema Datenschutz oder auf dem Thema IT-Sicherheit. Zur HIN Academy
Die FMH gestaltet nicht nur die Rahmenbedingungen der Digitalisierung mit, sondern ist mit ihren Beteiligungen an HIN und AD Swiss quasi selbst Anbieter. Was ist dabei die Zielsetzung?
Ziel ist, dass wir unseren Mitgliedern eine gute Dienstleistung anbieten. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten sich am EPD anzuschliessen, ist es für uns wichtig, dass unseren Mitgliedern eine kostengünstige, niederschwellige und insbesondere praktikable Lösung zur Verfügung steht. Entscheidend ist auch, dass wir den Bedürfnissen unserer Mitglieder hinsichtlich telemedizinischer Angebote gerecht werden.Die Telemedizin hat sich in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt. Die Nachfrage bei Patientinnen und Patienten vor allem für Notfall- und Erstabklärungen steigt. Da liegt es auch nahe, dass eine Patientin oder ein Patient nach einer telemedizinischen Konsultation das Rezept elektronisch erhält und nicht per Post. Die rechtskonforme Unterzeichnung und Übermittlung von elektronischen Rezepten ist uns deshalb auch ein grosses Anliegen. Ziel ist es, praxistaugliche Lösungen anbieten zu können.«Am besten wäre es, wenn ich gleich direkt sprechen könnte: ‹Hey EPD, nimmt diese Patientin Gerinnungshemmer?›»