«Das Berufsbild der Ärzteschaft wird sich verändern.»

Die zunehmende Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen umfasst weit mehr als das elektronische Patientendossier. HIN hat mit Yvonne Gilli, Verwaltungsrätin HIN und Mitglied des Zentralvorstands der FMH, über aktuelle Entwicklungen und künftige Herausforderungen gesprochen. 
Janine: Frau Gilli, Sie sind im Zentralvorstand der FMH für Digitalisierung und E-Health zuständig. Wie digitalisiert – auf einer Skala von 1 bis 10 – arbeiten Sie selbst in Ihrer Praxis?Yvonne Gilli: Ich arbeite in zwei Praxen, einer hausärztlichen und einer psychiatrischen, in beiden voll digitalisiert, also auf der Skala bei 10.
Wie wirkt sich die zunehmende Digitalisierung auf die alltägliche Tätigkeit von Ärztinnen und Gesundheitsfachpersonen aus?Bei der Prozessunterstützung wäre mehr möglich als mir zur Verfügung steht. Noch warte ich auf qualitativ gute Interaktionstools bei der Verschreibung von Medikamenten, die voll in meine Primärsoftware integriert sind, oder auf entsprechende Hilfestellungen im Bereich Guidelines. Online-Terminbuchungen nutze ich nicht, da sich das Profil meiner Praxistätigkeit nicht dafür eignet. Die Zusammenarbeit mit Praxiskolleginnen und -kollegen verändert sich insofern, als ein grosser Teil der Kommunikation elektronisch geschieht. Patientinnen wiederum nutzen immer selbstverständlicher Apps zur Behandlungsunterstützung, monitoren Puls und Blutdruck über ihre Wearables und informieren sich über ihre Krankheitssymptome auf Internetplattformen oder senden mir Bilder über Messenger-Dienste zur Beurteilung.
Mit der fortschreitenden Digitalisierung nehmen auch die Risiken bezüglich Datenschutz und -sicherheit zu. Wie kann man als technischer Laie sicherstellen, dass die eigene Praxis oder Institution ausreichend geschützt ist?Auf mich allein gestellt, erlebe ich diese Risikobeurteilung als Überforderung. Das ist der Grund, warum die HIN Awareness Schulungen anbietet und das Departement Digitalisierung / eHealth der FMH Empfehlungen und Mustervorlagen erstellt hat für Datenschutz und Datensicherheit in der ärztlichen Praxis. Die entsprechende Weiter- und Fortbildung sollte zunehmend integriert werden in die allgemeinen Curricula und auch abgegolten werden mit den entsprechenden Credits.
Gesundheitsfachpersonen sind meist keine IT-Spezialisten. Die Systeme sind aber heute hochkomplex, zunehmend vernetzt und nutzen beispielsweise die Cloud zur Ablage von Daten. Wie können Ärztinnen und Ärzte da noch ihrer gesetzlichen Verantwortung für die Daten ihrer Patienten gerecht werden?Ärztinnen und Ärzte sollen sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können, ohne sich zu beschäftigen mit zunehmenden Regulierungen und unverhältnismässig hohen betriebswirtschaftlichen Investitionen in IT-Sicherheit. Die FMH hat deshalb verschiedene Projekte gestartet. Bereits auf der Website aufgeschaltet sind praxistaugliche IT-Grundschutz-Empfehlungen und eine Mustervorlage zum Datenschutz. Noch dieses Jahr werden wir einen Musterrahmenvertrag für Cloud-Services zur Verfügung stellen, in Kombination mit einer Liste zur Selbstdeklaration für Softwareprovider. Wir werden diese Dienstleistungen nach Bedarf aktualisieren, damit Ärztinnen und Ärzte ohne übermässigen Aufwand ihre Praxen auch digital rechtskonform betreiben können.
Die FMH hat sich unlängst an AD Swiss beteiligt (HIN hat im Newsletter vom August darüber berichtet). Was bedeutet das für die HIN Teilnehmer?Aktuell ist die Beteiligung am elektronischen Patientendossier zwar erst für stationäre Institutionen obligatorisch und nicht für Praxen. Das Parlament sieht vor, dass neue Praxiszulassungen nur an diejenigen vergeben werden, welche sich am Patientendossier beteiligen. Dazu braucht es eine elektronische Identität und den Beitritt zu einer Gemeinschaft, welche die Führung eines Dossiers technisch ermöglicht. HIN wird die erste Firma sein, welche EPD-zertifiziert eine elektronische Identität anbieten kann. AD Swiss ist die einzige schweizweite ärzteeigene Gemeinschaft, welche Gesundheitsfachpersonen die Beteiligung am elektronischen Patientendossier ermöglicht. Die FMH ist an beiden beteiligt. Dies gibt uns die Möglichkeit, nutzenstiftende Angebote zu entwickeln und zu günstigen Konditionen anzubieten. Im Zusammenhang mit dem elektronischen Patientendossier braucht es insbesondere Angebote, welche die direkte digitale Kommunikation zwischen Gesundheitsfachpersonen erleichtert.
Yvonne Gilli
Dr. med. Yvonne Gilli Verwaltungsrätin HIN Mitglied Zentralvorstand FMH
Wo steht die Schweiz beim Thema E-Health im Vergleich zum Ausland?In Bezug auf internationale Rankings findet man die Schweiz regelmässig auf den hinteren Rängen. In Bezug auf unsere direkten Nachbarländer sind wir noch im Rennen. Der E-Health-Rückstand in der Schweiz hat verschiedene Gründe. Wichtig sind sicher die dezentrale Organisation des Gesundheitswesens, die Kleinheit der Schweiz und fehlende öffentliche Investitionen in diesen Bereich. Daneben wurden einige Bildungsbereiche im Zusammenhang mit E-Health vernachlässigt, u.a. die Bereitstellung und Förderung genügender Studienplätze für Medizininformatik. Auf allen diesen Gebieten besteht jetzt Nachholbedarf, auch um die Qualität der Gesundheitsversorgung auf hohem Niveau zu halten. Das heisst, es braucht ein Bewusstsein für eine nationale Datengovernance, die Förderung der Interoperabiliät und anerkannter Standards, elektronische Identitäten und öffentliche finanzielle Mittel für die digitale Transformation, sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich, um nur einige Punkte zu nennen. Zudem müssen Investitionen und IT-Betrieb im ambulanten Bereich tarifarisch abgegolten werden.
Schauen wir beim Themenkreis Digitalisierung, EPD und E-Health noch etwas weiter in die Zukunft. Was wäre Ihre persönliche Vision für die Schweiz in zehn Jahren?Das Berufsbild der Ärzteschaft wird sich verändern. Selbstverständlich werden mehr Prozesse automatisiert sein und mehr administrative Aufwände zur Patientin verlagert, ähnlich wie durch das Online-Banking. Die Ärztin wird nicht mehr in der Einzelpraxis, sondern im ambulanten Zentrum arbeiten und dort interdisziplinär und interprofessionell vernetzt sein. Ihre Entscheidungen werden durch künstliche Intelligenz unterstützt. Neulich hat ja bereits der erste Computer das Staatsexamen bestanden in Japan. Die Gesundheitserhaltung und die Erhaltung einer bestmöglichen Lebensqualität mit Krankheit wird eine viel grössere Rolle spielen als heute, wo die Krankheitsbehandlung noch voll im Zentrum der ärztlichen Tätigkeit steht. Das heisst für mich, dass sozialwissenschaftliche Fähigkeiten und Beziehung wieder an Gewicht gewinnen, weil der naturwissenschaftliche Teil zu einem viel grösseren Teil durch Computer unterstützt wird. Diese Entwicklung wird nur in dieser Weise stattfinden, wenn die Schweiz auch im internationalen Vergleich ihren Wohlstand erhalten kann.