Per Mitte April 2022 müssen Pflegeheime sich ans elektronische Patientendossier (EPD) anschliessen. Anna Jörger von Curaviva erklärt im Interview, wie die Branche aufgestellt ist, mit welchen Herausforderungen die Heime konfrontiert sind und wie sie und ihre Bewohnerinnen und Bewohner künftig vom EPD profitieren können.
Stefan: Frau Jörger, ist die EPD-Einführung in der Branche auf Kurs? Anna Jörger: Die Verzögerungen beim Anschluss der Spitäler und der Zertifizierung von (Stamm-) Gemeinschaften haben deutliche Spuren in unserer Branche hinterlassen: Viele Institutionen waren unsicher in Bezug auf Zeitpunkt und Umfang ihrer internen EPD-Bemühungen. Das ist verständlich, aber nun, da die grossen Hürden geschafft sind, können und müssen sich auch die Pflegeinstitutionen und Institutionen für Menschen mit Behinderung auf den Weg machen. Es gibt inzwischen viele sehr gute Umsetzungshilfen und die (Stamm-) Gemeinschaften können Hand für die konkreten Umsetzungsschritte bieten.Welche sind die grössten Herausforderungen bei der EPD-Einführung und wie lassen sich diese am besten meistern?Man darf nicht vergessen, dass die durchschnittliche Pflegeinstitution in der Schweiz rund 60 Plätze gross ist. Man kann sich gut vorstellen, dass solche Betriebe ganz andere Bedürfnisse und Ausgangslagen aufweisen, als es in Bezug auf die Spitäler der Fall ist. Bisher war das EPD-Grossprojekt noch sehr stark auf die Spitäler zugeschnitten, was man an den Anforderungen ablesen kann, die das Gesetz und somit letztlich die (Stamm-) Gemeinschaften an die Gesundheitseinrichtungen stellen. Die Pflege- und Behinderteninstitutionen müssen diese Hürden meistern, aber ohne, dass sie, so wie die Spitäler, eigens dafür abgestellte IT- oder Rechtsabteilungen mit entsprechenden personellen Ressourcen haben.
Anna Jörger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachbereich Mensch im Alter, CURAVIVA
Ein weiterer Knackpunkt ist die (noch) fehlende Einsicht in den Nutzen des EPDs. Diesen Nutzen können wir nicht abstrakt-theoretisch aufzeigen, sondern er muss im Alltag erlebt werden. Und das wird seine Zeit brauchen, gerade auch, weil die Bewohnenden in den kommenden Jahren vermutlich nur vereinzelt EPDs eröffnen werden oder beim Eintritt bereits ein solches mitbringen.Wie werden denn die Bewohnerinnen und Bewohner vom EPD profitieren?Gerade für multimorbide und chronisch kranke Menschen wird das EPD in besonderem Mass nützlich sein, da bei ihnen relativ viele behandlungsrelevante Daten anfallen, die wiederum – ganz im Sinne der interprofessionellen Zusammenarbeit – unterschiedlichen Gesundheitsdienstleistern zur Verfügung stehen müssen. Unsere Bewohnenden gehören grösstenteils zu diesem Personenkreis. Aber auch für Angehörige kann das EPD interessant sein, denn so muss nicht jedes Mal telefonisch nachgeforscht werden, wann und wo eine spezifische behandlungsrelevante Information (z.B. ein Austrittsbericht) verfügbar ist, sondern man kann, sofern man die EPD-Stellvertretung für den/die An-/Zugehörige/-n übernommen hat, diese Informationen selbst im EDP einsehen.«Den Nutzen des EPDs können wir nicht abstrakt-theoretisch aufzeigen. Er muss im Alltag erlebt werden.»
Wo sehen Sie den Nutzen oder Mehrwert des EPD für die Heime selbst?Die integrierte Versorgung ist wesentlich für eine proaktiv auf die aktuellen und künftigen Herausforderungen ausgerichtete Herangehensweise aller Akteure des Gesundheitswesens. Sie entspricht überdies auch den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten. Die Institutionen der Langzeitpflege sind heute bereits viel mehr als stationäre Dienstleister: Immer vielfältiger werden die von ihnen angebotenen Services und bedienten Strukturen und sie arbeiten immer häufiger in koordinierter Form mit anderen Dienstleistern aus dem Gesundheits- und Sozialbereich zusammen. Das EPD muss als ein Mosaikstein in der digitalen Unterstützung dieser sehr begrüssenswerten Entwicklung gesehen werden.Etwas in die Zukunft geblickt: Welche Vision verfolgt Curaviva in Bezug auf eHealth?Die Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf sollen den digitalen Wandel in ihren Organisationen mitprägen können. Das setzt voraus, dass sie sich auf den Weg machen und sich proaktiv mit den Herausforderungen, aber eben auch Chancen auseinandersetzen. Auf der anderen Seite müssen aber natürlich auch die Kompetenzen der Klientinnen und Klienten (Bewohnende, Patienten/-innen) sowie der Mitarbeitenden auf allen Ebenen gefördert werden, damit der digitale Wandel sinnvoll vollzogen werden kann. Und last but not least: digitale Tools und Hilfestellungen verfolgen keinen Selbstzweck. Sie müssen Mehrwert schaffen und dürfen nicht, umgekehrt, das Leben verkomplizieren. Das gilt umso mehr bei älteren Nutzergruppen sowie bei Mitarbeitenden in Berufssegmenten, die chronisch überbelastet und personell unterbesetzt sind. In diesem Sinne sind gute und bedarfsgerechte Lösungen auf Entwicklerseite absolut zentral. Und natürlich freut sich die Branche über durchdachte und integrative Gesamtlösungen anstelle von vielen Einzellösungen, die nicht miteinander kommunizieren können.«Die Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf sollen den digitalen Wandel in ihren Organisationen mitprägen können.»
Informationen und Hilfestellungen
- Wer muss ein EPD anbieten? | Faktenblatt | eHealth Suisse | 2022 (pdf, 281 KB)
- Anbindung Gesundheitseinrichtungen ans EPD | Faktenblatt | eHealth Suisse | 2022 (pdf, 204 KB)
- EPD-Empfehlungen Minimalanforderungen | Faktenblatt | CURAVIVA Schweiz | 2021 (pdf, 153 KB)
- Elektronisches Patientendossier (EPD) | Leitfaden | CURAVIVA Schweiz | 2019 (pdf, 561 KB)
Zudem kann über den Verlag die Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Anbindung ans EPD bezogen werden, und der Verband hat mit zwei Beratungsfirmen Beratungspakete für die Mitglieder geschnürt, die sie punktuell bei der Umsetzung unterstützen können.