Was ist eure Wunschvorstellung des Gesundheitswesens der Zukunft?
Sang-Il Kim: In meiner Vision für das Gesundheitswesen der Zukunft wird kein Papier mehr verwendet. Die Kommunikation erfolgt ausschliesslich digital, wobei ein nahtloser Informationsfluss zwischen Gesundheitsfachpersonen, Institutionen und Patienten gewährleistet ist. Ich erwarte, dass die Schweiz trotz politischer Hürden und föderalistischer Strukturen in den kommenden Jahrzehnten digitale Gesundheitsdienste einführen wird, darunter ein elektronisches Patientendossier (EPD), digitale Krankheitsregister und eine Möglichkeit die aktuelle Medikation und Impfstatus eines Menschen einzusehen. Es besteht auch das Potenzial, die digital gespeicherten Gesundheitsdaten der Forschung zur Verfügung zu stellen, um Prozesse zu optimieren und die Qualität der Dienstleistungen zu messen, was zu einer besseren Medizin und mehr Patientensicherheit führen wird. Da die Schweiz bereits über ein qualitativ sehr gutes Gesundheitssystem verfügt, ist der politische Druck zur Digitalisierung des Gesundheitswesens vergleichsweise gering, was wiederum bedeutet, dass die Umsetzung länger dauern wird als in anderen Ländern.Gert Krummrey: Ich könnte mir vorstellen, dass aufgrund des langsamen Fortschritts der Digitalisierung im Gesundheitswesen in der Schweiz globale Technologieriesen wie Google, Microsoft und Apple die Handbremse lösen und eigene E-Health-Lösungen anbieten werden. Die Einführung von Personal Health Records auf Apple- und Google-Geräten ist bereits ein Schritt in diese Richtung. Wenn es ihnen gelingt, eine nahtlose Anbindung an Leistungserbringer zu schaffen, könnten sie – deutlich bequemere Lösungen anbieten. Ich stelle mir auch vor, dass Gesundheitsfachkräfte dank KI weniger Zeit vor dem Computer verbringen werden. Fortschritte in der Spracherkennung und die Nutzung von Sprachmodellen wie ChatGPT werden die Arbeitsabläufe im Gesundheitswesen vereinfachen, indem sie relevante klinische Informationen aus Freitextfeldern oder Gesprächen mit Patientinnen und Patienten extrahieren und die Dokumentation optimieren und ergänzen.
Welche Rolle spielen elektronische Identitäten (eIDs) im Gesundheitswesen der Zukunft?
Kim: eIDs werden eine zentrale Rolle im Gesundheitswesen spielen, indem sie eine eindeutige Zuordnung von Aktivitäten und Entscheidungen ermöglichen und somit die Sicherheit und Nachvollziehbarkeit fördern. Sowohl für Gesundheitsfachpersonen als auch für die breite Bevölkerung, insbesondere im Zusammenhang mit dem EPD, wird die eID von grosser Bedeutung sein, um neue Formen der Zusammenarbeit und Informationsflüsse zu unterstützen. Trotz Fortschritten in der Verbreitung von eIDs sind Usability-Herausforderungen wie die Zwei-Faktor-Authentifizierung und die Vereinfachung des Anmeldeprozesses zu bewältigen. Um sicherzustellen, dass eIDs eine Schlüsselkomponente im zukünftigen Gesundheitswesen bilden, ist die Entwicklung von benutzerfreundlichen technologischen Lösungen entscheidend. Diese sollten die Anforderungen sowohl von Fachpersonen als auch von Patienten berücksichtigen und eine nahtlose Integration von eIDs ermöglichen.«Sowohl für Gesundheitsfachpersonen als auch für die breite Bevölkerung, insbesondere im Zusammenhang mit dem EPD, wird die eID von grosser Bedeutung sein.»
Sang-Il Kim
Prof Dr. Sang-Il Kim ist sowohl Mediziner als auch Informatiker. Er hat sich in den letzten zwanzig Jahren beruflich mit Digitalisierungsthemen im Gesundheitswesen auseinandergesetzt, unter anderem mit dem elektronischen Patientendossier (EPD). An der BFH baut er zusammen mit Kollegen das Forschungsgebiet „Care at Home“ auf.
Gert Krummrey
Prof. Dr. Gert Krummrey hat lange als Notfallmediziner im Inselspital Bern gearbeitet und grosse IT-Projekte wie KIS-Ausschreibungen mitgeleitet. An der BFH liegt sein Schwerpunkt auf der Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit von KIS, beispielsweise durch die Integration neuer KI-Anwendungen.
Was muss im Gesundheitswesen optimiert werden, damit die Zusammenarbeit effizienter wird?
Krummrey: In der Medizininformatik besteht das anhaltende Problem der mangelnden Interoperabilität zwischen verschiedenen Systemen und Akteuren, insbesondere in föderalen Gesundheitssystemen wie der Schweiz. Dies resultiert aus individuell angepassten IT-Systemen und komplexen Middleware-Strukturen, was die Kommunikation und den Datenaustausch erschwert. Um dieses Problem anzugehen, müssen wir Anbieter von Klinikinformationssystem (KIS) zur Implementierung offener Schnittstellen entweder verpflichten oder Anreize dafür schaffen. Obwohl sichere E-Mail-Lösungen wie HIN Mail bereits genutzt werden, bleibt die strukturierte Übertragung von Informationen eine Herausforderung. Viele Daten (zum Beispiel Medikation, Diagnosen) werden unstrukturiert übermittelt und müssen erneut manuell von Ärzten in Zielsysteme eingetragen werden. Dies führt zu ineffizienten Prozessen und Frustration seitens der Benutzer. Eine nachhaltige Lösung erfordert koordinierte Anstrengungen auf kantonaler und nationaler Ebene, um die Interoperabilität im Gesundheitswesen zu verbessern.Wir haben viel über die Vorteile gesprochen, aber seht ihr auch Nachteile oder Risiken, die die Digitalisierung des Gesundheitswesens für Patienten und Gesundheitsfachpersonen mit sich bringt?
Krummrey: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens bietet sowohl Chancen als auch Risiken. Die Umsetzung spielt eine entscheidende Rolle, da ineffiziente Prozesse und Inkompatibilität zwischen verschiedenen Systemen zu praktischen Problemen führen können, insbesondere im Umgang mit Notfällen. Dies kann zur Verzögerung der Behandlung von Patientinnen und Patienten führen. Es ist hierzu wichtig sicherzustellen, dass die Technologie für alle zugänglich ist, einschliesslich älterer Menschen und solcher, die möglicherweise Schwierigkeiten mit digitalen Anwendungen haben. Wir müssen uns bemühen niemanden auszuschliessen. Die sorgfältige Planung und Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Beteiligten sind entscheidend, um die Risiken zu minimieren und die Vorteile zu maximieren.Kim: Da stimme ich Prof. Krummrey zu. Eine der grössten Herausforderungen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens besteht darin, sicherzustellen, dass niemand zurückgelassen wird. Dies betrifft sowohl die breite Bevölkerung als auch die Gesundheitsfachpersonen. Das «Health Literacy Survey Schweiz 2019-2021» zeigt, dass die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung nicht immer so hoch ist, wie wir vielleicht annehmen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, hier anzusetzen und Bildungs- und Schulungsmassnahmen zu fördern, um sicherzustellen, dass die digitale Transformation inklusiv und gerecht ist. Niemand sollte aufgrund von finanziellen oder Bildungshürden benachteiligt werden.«Es ist hierzu wichtig sicherzustellen, dass die Technologie für alle zugänglich ist, einschliesslich älterer Menschen und solcher, die möglicherweise Schwierigkeiten mit digitalen Anwendungen haben.»
Und seht ihr Risiken bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens auch in Bezug auf Cybersicherheit?
Kim: Meine etwas naive Einschätzung in Bezug auf Cybersicherheit im Gesundheitswesen ist, dass Cybersicherheit kein grosses Problem darstellt, da es in anderen Branchen lukrativere Möglichkeiten für Datenklau und kriminelle Cyberaktivitäten gibt. Dennoch sollten wir nicht ausschliessen, dass mit der zunehmenden Digitalisierung des Gesundheitswesens neue Geschäftsmodelle im Darknet entstehen könnten, die auf gestohlenen Gesundheitsdaten basieren. Daher ist es essenziell, alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Gesundheitswesen transparent über bestehende Risiken aufzuklären und die Vorteile der Digitalisierung klar zu kommunizieren. Benutzer sollten in der Lage sein, fundierte Entscheidungen über die Nutzung digitaler Gesundheitslösungen zu treffen, sei es aus persönlichen Gründen oder beruflichen Anforderungen. Bei den Bemühungen zur Stärkung der Cybersicherheit sollte nicht vernachlässigt werden, dass der Mensch nach wie vor als der grösste Faktor für Cybersicherheitsprobleme gilt, und nicht die Maschinen.Krummrey: Es ist entscheidend, den Menschen bewusst zu machen, dass Cybersecurity-Risiken im digitalen Zeitalter ein Teil unseres Lebensrisikos sind, ähnlich wie Unfälle im Strassenverkehr. Die Nutzung des Internets und die Zunahme digitaler Vorgänge bedeuten leider, dass Cybersecurity-Vorfälle Teil unseres Alltags werden. Die Herausforderung besteht darin, dass wir oft nicht mehr die Wahl haben, wo unsere Daten gespeichert werden, da selbst Krankenkassen und Leistungserbringer zunehmend Cloud-Dienste nutzen. Dieses Fehlen von Wahlfreiheit in Bezug auf Datenspeicherung könnte dazu führen, dass wir bei der Nutzung von Diensten einfach Geschäftsbedingungen akzeptieren, die wir möglicherweise nicht vollständig verstehen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Sicherheitsrisiko für digital gespeicherte Patientendaten eher geringer ist als für solche, die in einem Karteikasten in einer Arztpraxis liegen.
«Es ist entscheidend, den Menschen bewusst zu machen, dass Cybersecurity-Risiken im digitalen Zeitalter ein Teil unseres Lebensrisikos sind, ähnlich wie Unfälle im Strassenverkehr.»
Wie wird sich der Alltag des Pflegefachpersonals und der Ärzteschaft verändern durch die Digitalisierung?
Kim: Sie werden endlich mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten haben, da sie von vielen administrativen Tätigkeiten entlastet werden. Wenn wir das nicht schaffen, dann haben wir alle versagt.Krummrey: Berufe im Gesundheitswesen haben einen grossen Vorteil: Es ist vollkommen klar, dass diese Berufe sinnstiftend sind und einen bedeutenden Einfluss auf das Leben anderer Menschen haben. Wir müssen jedoch vorsichtig sein, was wir den Pflegenden, Ärzten und anderen im Gesundheitssystem zumuten. Neue digitale Dokumentationsmethoden könnten eine Entlastung bieten, indem sie die Interaktion mit Maschinen ermöglichen, die unser Verhalten verstehen und fehlende Informationen konsistent ergänzen können. Es ist wichtig sicherzustellen, dass diese Vorteile nicht durch zusätzliche Belastungen wie Qualitätssicherungsvorgaben oder andere Aufgaben zunichtegemacht werden. Wenn wir diese Berufe nicht schrittweise von der umfangreichen administrativen Arbeit entlasten, werden wir Schwierigkeiten bei der Rekrutierung und Bindung von Fachkräften erleben. Es ist entscheidend, das vorhandene Personal im System zu halten und dank der Digitalisierung attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen.
«Wir müssen jedoch vorsichtig sein, was wir den Pflegenden, Ärzten und anderen im Gesundheitssystem zumuten.»
Viele Patientinnen und Patienten fühlen sich verunsichert bei der Vorstellung, von einem Pflegeroboter gepflegt zu werden. Könnt ihr das nachvollziehen?
Kim: Soweit davon entfernt, von Robotern gepflegt zu werden, sind wir gar nicht. Kürzlich haben wir ein Studentenprojekt durchgeführt, bei dem ein solcher Roboter in einem Pflegeheim mit älteren Bewohnern interagiert hat. Diese Bewohner waren geistig noch fit, aber körperlich eingeschränkt. Der Roboter führte verschiedene psychische und physische Aktivitäten durch, wie Quizspiele und gemeinsames Singen, und begleitete die Bewohner auf Spaziergängen. Überraschenderweise waren sowohl die Bewohner vor Ort als auch das Pflegepersonal froh über diese Aktivitäten, die durch die Maschine ermöglicht wurden. Natürlich wäre menschliche Interaktion bevorzugt, doch angesichts des steigenden Bedarfs an Pflegekräften in einer alternden Gesellschaft müssen wir realistisch sein. Die Akzeptanz von Pflegerobotern könnte je nach Anwendungsfall durchaus hoch sein und sie könnten als Werkzeug dienen, um Menschen zu unterstützen und zu helfen. Es ist entscheidend, die Menschen, die von dieser Technologie betroffen sind, von Anfang an mit einzubeziehen und ihre Wünsche und Bedenken zu berücksichtigen. Nur so kann die Akzeptanz für Roboter in der Pflege wachsen und letztendlich einen Mehrwert bieten.Krummrey: Ja, ich glaube, dass die Integration von Robotern in der Pflege unausweichlich ist. Es wird wahrscheinlich eine schrittweise Entwicklung sein, bei der Roboter in der Pflege dazu beitragen, die physisch anspruchsvollen Aufgaben zu erleichtern und das Pflegepersonal zu entlasten. Dies könnte notwendig werden, um bezahlbare Pflege in einer alternden Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Ähnlich, wie wir uns bereits an Maschinen in verschiedenen Bereichen unseres Lebens, wie in Callcentern, gewöhnt haben, könnten wir uns allmählich daran gewöhnen, dass Roboter in der Pflege eine wichtige Rolle spielen. Wenn dies sorgfältig umgesetzt wird, sehe ich darin keine schlechte Entwicklung, sondern eine Möglichkeit, die Pflegequalität aufrechtzuerhalten und das Pflegepersonal zu unterstützen.«Überraschenderweise waren sowohl die Bewohner vor Ort als auch das Pflegepersonal froh über diese Aktivitäten, die durch die Maschine ermöglicht wurden.»