Dr. Markus Leser ist Leiter Fachbereich Menschen im Alter und Mitglied der Geschäftsleitung von CURAVIVA. Im Interview berichtet er mir, wie die Pandemie-Situation die individuelle Begleitung, Pflege und Betreuung von betagten Menschen verändert hat und welche Spuren dies hinterlassen wird.
Janine: Die Pandemie stellte das Gesundheitswesen vor immense Herausforderungen. Wie zeigte sich dies im Bereich der Pflege und Betreuung?Markus Leser: Der Schwerpunkt der Herausforderungen verlagert sich zwar ständig, es werden aber nie weniger – im Gegenteil. Da wäre die finanzielle Belastung, hervorgerufen durch Schutzmassnahmen, Personalausfall und die Pflegeerweiterung beispielsweise bei Quarantänefällen. Zudem die Organisation von Materialien und neuen Prozessen, wie beispielsweise für Schutzmassnahmen oder momentan für die Durchführung der Impfungen. Ein sehr grosser Punkt stellt auch die emotionale Belastung aller Beteiligten dar. Von den Bewohnern, die mit der Einsamkeit und Unsicherheiten kämpfen, über das Pflegepersonal, welches einer enormen Belastung ausgeliefert ist, bis hin zur Führungsebene, die sich bei der Massnahmenumsetzung ständig in einem ethischen Dilemma zwischen Sicherheit und Freiheit befindet.
Dr. Markus Leser ist Leiter Fachbereich Menschen im Alter und Mitglied der Geschäftsleitung von CURAVIVA, die Teil der HIN Community ist.
Die Vision von CURAVIVA Schweiz lautet «gemeinsam für heute und morgen». Wo steht das Gesundheitswesen im Bereich der Pflege und Unterstützung heute? Welche Spuren hat die Pandemie-Situation hinterlassen und wie werden diese das Morgen beeinflussen?Die Branche steht im Wandel, ist aber meiner Meinung nach immer noch auf einem guten Weg. Sicher hat sich mit der Pandemie einiges erschwert, die Umsetzung einiger Themen aber durchaus auch beschleunigte. Ein gutes Beispiel dafür liefert das von CURAVIVA erarbeitete «Wohn- und Pflegemodell 2030», welches sich zum Ziel setzt das Leben betagter Menschen noch lebenswerter zu gestalten. Die Pandemie hat die darin definierten Leitsätze nicht verändert, im Gegenteil. Durch die erschwerte Situation wurden die Punkte auch externen Interessensgruppen verstärkt aufgezeigt und fanden so teilweise auch endlich mehr Anklang in der Politik. Momentan befinden wir uns noch mitten in der zweiten Welle, weshalb noch unklar ist, welche nachhaltigen Auswirkungen die Situation auf die Zukunft der Pflege haben wird. Meine Hoffnung ist aber nach wie vor, dass dieses «Augenöffnen» auch auf lange Sicht anhält und die Branche auch nachhaltig mehr Unterstützung und positive Aufmerksamkeit erhält.Welche Herausforderungen dieser Zeit sehen Sie als besonders belastend für die Branche?Wie bereits in der ersten Frage erwähnt, sind es im Wechsel immer wieder andere Herausforderungen, die in den Fokus rücken. Eine jedoch bleibt: die mentale Belastung. Ganz besonders für das Pflegefachpersonal ist die Situation unfassbar schwierig. Ein geschätzter Kollege von mir hat einst treffend formuliert: «In einem Heim sammeln sich Menschen an». Das ist nun mal die Realität, man kann das Pflegepersonal nicht ins Homeoffice schicken, deshalb lässt sich trotz aller Schutzmassnahmen die Möglichkeit, dass sich jemand ansteckt, nicht komplett
ausschliessen. Diese Tatsache verinnerlicht sich bei den Mitarbeitenden zu einer unterschwelligen Angst, die wiederum zum ständigen Begleiter wird. Unter diesem Druck müssen sie ihre Arbeit, die ohnehin schon schwierig und belastend ist, verrichten. Und trotz all diesen Herausforderungen tun sie alles nur Erdenkliche, um ihren Bewohnern dennoch eine möglichst hohe Lebensqualität bieten zu können. Das bedeutet auch trotz allen Sorgen einem Bewohner stets ein Lächeln zu schenken und Trost zu spenden. Das ist eine gigantische Aufgabe, die sie jeden Tag bewältigen.Als Teil der Geschäftsleitung verschaffen Sie den Interessen Ihrer Mitglieder Gehör in der Öffentlichkeit. Hat sich der Schwerpunkt der Interessen durch das vergangene Jahr verändert?Nein, verändert hat er sich nicht, vielmehr um einen schwerwiegenden Punkt erweitert: das Arbeiten im ständigen ethischen Dilemma. Daraus resultiert der Wunsch eine Lösung für ein unlösbares Problem zu finden. Wie in Frage eins bereits erwähnt steht man in der Führungsebene seit Pandemiebeginn unaufhörlich im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit. Eines steht in Konkurrenz zum anderen. Ich sehe ein Heim immer als Miniaturversion der globalen Gesellschaft. Sämtliche Konflikte spielen sich dort im kleinen Rahmen ab, so reden auch hier viele Parteien mit unterschiedlichen Meinungen aufeinander ein. Hundert Prozent Sicherheit bedeutet Abstriche in der Freiheit, beispielsweise mit einem Besuchsverbot. So verzichten einige Bewohner gerne auf Kosten ihrer Sicherheit auf Besucher, für andere ist dies jedoch ein viel zu grosses Opfer. Auch Angehörige und externe Interessensgruppen haben dazu geteilte Meinungen. Das Aushalten dieser unlösbaren Aufgabe, bei der immer eine Partei unzufrieden zurückbleibt, ist unfassbar belastend. Der Wunsch nach Aufklärung der Öffentlichkeit ist gross. Wenn das Bewusstsein grösser wäre, dass es nun mal Abstriche benötigt, würde das bereits etwas Druck nehmen. Es gibt kein Schwarz und Weiss, kein richtig oder falsch, es bleibt eine Ermessensfrage, die man treffen und anschliessend mit den Konsequenzen leben muss.Sie sind Leiter Fachbereich Menschen im Alter, worin sehen Sie die grösste Herausforderung der aktuellen Situation in Bezug auf betagte Menschen?In Heimen ist die Einstellung der Bewohner sehr unterschiedlich. Menschen, die sich mit ihrem Lebensende bereits auseinandergesetzt haben, sehen der Pandemie oft gelassener entgegen. Sie haben keine Angst zu sterben und machen sich daher auch weniger Sorgen darüber, was ihnen bei einer Infektion alles geschehen könnte. Dann gibt es aber auch welche, die enorm verunsichert und teilweise verängstigt sind. Der Vorteil in einem Heim ist, dass die Pflegenden und weitere Mitarbeitende da sind, die einen etwas beruhigen und einem dadurch die entstehenden Einsamkeit etwas nehmen können. Während dem Besucherverbot im ersten Lockdown haben viele Fachpersonen die Angehörigen ersetzt. Mittlerweile ist man sich zum Glück einig, dass es zu einem vollständigen Besuchsverbot nicht mehr kommen darf. Es ist ohnehin durch Studien bewiesen, dass Einsamkeit im Alter – auch ohne Pandemie – verstärkt auftreten kann, das darf nicht noch zusätzlich geschürt werden. Womit ich zu einem anderen Aspekt komme, der leider oft vergessen geht: Viele betagte Menschen wohnen noch Zuhause und sind durch die aktuelle Situation komplett eingeschüchtert. Wer kein starkes Netzwerk im familiären Umfeld hat, bleibt alleine zurück. Die psychische Belastung steigt dadurch enorm. Das ist nicht zu unterschätzen, es gibt viele ältere Menschen, die durch die Situation im letzten Jahr unbedingt Unterstützung benötigen.Wir wollten unseren Kunden dieses Jahr etwas mit auf die Reise ins 2021 geben, das positive Spuren hinterlässt. Spuren von Hoffnung und der Zuversicht, dass wir die Herausforderungen des vergangenen Jahres zum Besseren wenden können. Deshalb wurden im Namen der HIN Community Spenden an drei Organisationen getätigt. Eine der Drei geht an CORONAVIRUS SCHWEIZ der Glückskette. Mit den Spendengeldern unterstützen sie betagte Menschen und Menschen mit Behinderungen, die zur Risikogruppe gehören und jetzt isoliert leben müssen genauso wie Familien, die an Armut leiden und obdachlose Personen.